Eine Spurensuche im Wiener Cabaret der 20er Jahre

Ernst Stankovski – „Keine Spur von Literatur“

von Frank Becker

Eine Spurensuche im
Wiener Cabaret der 20er Jahre
 
Zugleich eine Hommage an Ernst Stankovski
 
Ernst Stankovski (1928-2022) war der unbestrittene Grandseigneur der deutschsprachigen Kleinkunstbühnen und des Cabarets, Schauspieler und Kabarettist von Rang, Chansonnier, Pianist, Autor, Fernsehmoderator und Regisseur - schlicht: ein Kenner und Könner der Bühne und des literarischen Kabaretts/Brettl auf allen Ebenen. Seine Nachdichtung von „Das große Testament des François Villon“, mit der er bis 2003 erfolgreich solo tourte und deren opulente, lange vergriffene Buchausgabe Objekt des Sammlerbegehrens ist (der Live-Mitschnitt des Programms ist noch als CD zu haben), setzte neue Maßstäbe in der bis dahin von Paul Zech dominierten Villon-Rezeption. Die Neuübersetzungen diverser Moliere-Stücke haben seinem der Bühne gewidmeten literarischen Schaffen eine weitere funkelnde Facette gegeben.

In der Fernsehgeschichte hat der elegante Charmeur, der noch bis ins Alter immer mit der gleichen nonchalanten Geste die Haarsträhne zurückstrich, mit „Heute Abend Ernst Stankovski“, „Spaß mit Ernst“ und „Erkennen sie die Melodie?“ seine Spuren hinterlassen. Die Schallplatten- und CD-Aufnahmen des 1928 in Wien (wo sonst?) geborenen Ernst Stankovski haben ein Stück Wiener Cabaret bewahrt, das einmal an Rang dem Berliner nicht nachstand. Im Wiener „Theater in der Josefstadt“ hatte der Reinhardt-Seminarist und nachmalige Burgschauspieler 1946 debütiert - pünktlich zum 60-jährigen aktiven Bühnenjubiläum, das er am 10. und 19. November 2006 mit dem Programm „Geh´ zu den Gauklern“ im Wiener „stadtTheater“ in der Walfischgasse feierte, ist damals ein neues Album erschienen: „Keine Spur von Literatur“. Texte von Fritz Grünbaum, Ralph Benatzky, Fritz Rotter, Hermann Leopoldi, Fritz Löhner-Beda (Sie wissen schon: Ausgerechnet Bananen…) und nicht zuletzt eigene Conférencen und Moderationen zu seinem Jubiläumsprogramm hat Ernst Stankovski auf diesem Album versammelt, kommentiert und musikalisch begleitet. Ein amüsanter Ausflug ins besagte Wiener Cabaret der 20er Jahre ist es, eine Spurensuche mit ein wenig Wehmut, doch mit noch viel mehr Vergnügen, heute ein kabarettistisches Zeitzeugnis von Rang.

Ernst Stankovski entführt bei diesem Ausflug in die „Hölle“, das legendäre Wiener Brettl, das sein Domizil im Kellergeschoß des „Theaters an der Wien“ hatte. Dort traten alle großen österreichischen Kabarettisten und Kleinkünstler auf. Bonbons wunderbaren Schmähs sind dabei u.a. Fritz Grünbaums Satiren „Der Gast“ und „Die Hölle im Himmel“. Opus 31 von Robert Stolz, Hauskomponist der „Hölle“ ist ein rares kleines Schmankerl: die „Ballade“. Dank dieser „Ausgrabung“ wissen wir jetzt auch, wo Heinz Erhardt seine Ballade vom Sauwetter anlehnt. Stankovski schwelgt in großen Namen - und wir mit: Rudolf Österreicher, Adele Sandrock, Josma Selig, Egon Friedell, Alfred Polgar, Karl Farkas, Hugo Wiener, Karl Kraus, Hans Moser... Und das berühmte Wiener Kaffeehaus kann natürlich nicht fehlen. Es hat seinen gebührenden Platz, denn „ins Kaffeehaus gehen Leute, die allein sein wollen, und dabei Gesellschaft brauchen“. Das „Dobner“, das „Beyer“, der „Heinrichshof“ sind die Legenden der Künstlerwelt. Dem Ur-Wiener Herman Leopoldi widmet Ernst Stankovski ein Kapitelchen und ein angemessen umfangreiches dem Operetten-Librettisten und Schlager-Texter Fritz Löhner-Beda.

Friedl Weiss-Delling, die „Tante Friedl“ Stankovskis, eine Ikone der „Hölle“ wird ihrem hohen Rang der Wiener Kabarett-Szene entsprechend mit Anekdoten gewürdigt, die sich als roter Faden durch das Programm ziehen. Tragisch endete für viele kritische Geister, zumal unter den jüdischen Wiener Kabarettisten das Leben unter der braunen Gewaltherrschaft. Auch das vergißt Stankovski nicht. Das „Buchenwald-Lied“ von Löhner-Beda und Leopoldi und Stankovskis „Abgesang auf die Hölle“ wecken schlimme Erinnerungen. Die dennoch vergnüglichen, aufschlußreichen und höchst unterhaltsamen 70 Minuten von „Keine Spur von Literatur“, dem ultimativen Querschnitt durch die „Höllen“-Geschichte, können, ja müssen jedem Freund des Kabaretts ans Herz gelegt werden, wenn die CD vom Herausgeber, dem Label kip records nicht mehr angeboten wird.
 
Ernst Stankovski – „Keine Spur von Literatur“
Ernst Stankovski - Moderation, Klavier, Gesang (CD)
(P) + © 2006 kip records
Titel:
1. Begrüßung 2:44 - 2. Der Gast 5:08 - 3. Die Höllenkünstler 1:04 - 4. Seelenwanderung 3:52 - 5. Ballade 1:40 - 6. Die Hölle im Himmel 7:26 - 7. Kabarett, Cabaret und die Tante 7:22 - 8. Wien und das Kaffeehaus 1:40 - 9. Von Veronika zur Monotonie 4:20 - 10. Vom Ringelspiel zu Ringelnatz 4:20 - 11. Was braucht der Wiener 3:36 - 12. Ausgerechnet Bananen 4:20 - 13. In Nischninowgorod 4:20 - 14. Über Friedl Weiss, Hitler und politisches Cabaret 4:20 - 15. Das Buchenwaldlied 3:18 - 16. Abgesang auf Cabaret und Hölle  5:08
Gesamtzeit: 1:09:50

Weitere Informationen unter:  www.ernst-stankovski.com